Mein verrücktes Hühnchen

Damit ich mich im Leben besser zurecht finde, versehe ich alles mögliche mit Etiketten: Schuhkartons, Aktenordner, Marmeladegläser, Computerdateien, Fotoalben, CDs und so weiter. Selbst vor anderen Zeitgenossen mache ich nicht halt, und so läuft jeder in meinem Umfeld mit einem imaginären Aufkleber an der Stirn durchs Leben.
Allerdings beschrifte ich nicht nur Mitmenschen, sondern auch meine Katzen. Auf Felix zum Beispiel steht „scheu“, auf Lieschen „launisch“, und Lili habe ich schon bei der ersten Begegnung das Attribut „kess“ verpasst.
Ursprünglich war sie die Katze meiner Nachbarn. Weil sie aber zu den Katzenmüttern gehört, die es nicht verknusen können, wenn ihr Nachwuchs, anstatt eigene Wege zu gehen, nach fünf Monaten immer noch zu Hause rum lungert, hat sie sich eine andere Bleibe gesucht: meine Wohnung. Ich konnte sie vertreiben so oft ich wollte, sie kam wieder. Vorzugsweise nachts, wenn ich schlief. Betrat ich morgens mein Arbeitszimmer, lag Lili auf dem Stuhl an meinem Schreibtisch und schaute mich verschlafen an. Sobald ich mit erhobener Stimme „Lili!“ rief und mit dem Finger drohte, hetzte sie von dannen – um die nächste Nacht prompt wieder auf dem Drehstuhl zu verbringen.
Verhindern konnte ich das nicht, denn wegen Felix und Lieschen musste die Katzenklappe ja offen bleiben.
Irgendwann habe ich mit meiner Nachbarin dann vereinbart, dass Lili bei mir nicht nur übernachten darf, sondern auch was zu Fressen bekommt, und mit Ãœbergabe des Impfpasses wurde sie einige Wochen später ganz offiziell Mitglied meiner ­Fa­milie.
Lili ist ein weiblicher Rabauke und hat vor nichts Angst, weder vor fremden Menschen noch vor Artgenossen und kann aufgrund ihres unerschrockenen Wesens und ihrer ausgelassen-vergnügten Art höchst amüsant sein. Wäre sie ein Mensch, wäre sie bestimmt Clown geworden, oder Komiker. So kann ich mich zum Beispiel ausschütten vor Lachen bei ihren „Anfällen“, bei denen sie aus dem Stand heraus auf hundert beschleunigt und wie der bekloppte Bruder von Mortimer Brewster in dem amerikanischen Film „Arsen und Spitzenhäubchen“ die Treppe hoch rast. Sie erinnern sich? Teddy, so hieß der Bruder, hielt sich für Präsident Roosevelt, blies mit seiner Trompete immer zur Attacke und stürmte dabei wie von der Tarantel gestochen die Treppe rauf.
So macht Lili es auch. Zwar nicht mit Trompete, aber mit diesem merkwürdigen Laut, einem vergnügtem Knurren, ihrem ganz speziellen Ausdruck höchster Lebenslust. Bei solchen Gelegenheiten liegt sie ganz entspannt irgendwo im Wohnzimmer und man könnte denken, sie schläft tief. Doch plötzlich und ohne erkennbaren Anlass setzt sie sich in Bewegung, spurtet wie ein geölter Blitz die Treppe zur Galerie rauf, dreht oben eine Runde und trampelt dann wieder nach unten, wo sie in spontanen Schlaf verfällt – um kurze Zeit später dasselbe Spiel zu beginnen.
Ich konnte diese kesse Mieze zwar von Anfang an gut leiden, doch ein tiefgehen­deres Gefühl, so wie für meine beiden anderen, viel sanfteren Katzen, empfand ich für Lili nicht. Im vergangenen Sommer jedoch hat sich das grundlegend geändert.
Lili hatte mal wieder keinen Appetit. Sie schnupperte zwar an ihrem Futter, rührte es aber nicht an, sondern scharrte es weg. Natürlich scharrte sie es nicht wirklich weg, weil das auf Fliesenboden ja nicht geht. Aber sie machte diese Bewegung, mit der Katzen ihre Hinterlassenschaften unter die Erde buddeln. Und das bedeutet: schnell weg mit diesem ekligen Zeug! Zum ultimativen Test stellte ich ihr Joghurt vor die Nase. Lili ist ganz verrückt nach Joghurt. Normalerweise. Als sie versuchte, auch diesen Leckerbissen weg zu scharren, war mir klar: sie hat wieder Magenprobleme. Ein Jahr zuvor hatte sie dasselbe Verhalten an den Tag gelegt. Gastritis, hatte die Ärztin damals gemeint, und das war auch dieses Mal die Diagnose.
Na ja, dachte ich, da kriegt sie halt wieder Medikamente und alles ist in Ordnung. Ob ich was dagegen hätte, wenn sie Lili Blut abnehmen würde, fragte die Ärztin am Ende der Behandlung. Warum das denn, wollte ich wissen. Zweimal in­nerhalb so kurzer Zeit eine Gastritis, so lautete die Antwort, das sei nicht normal. Lili habe möglicherweise Leukose. Erst mal abwarten ….
Ich fragte nicht weiter nach, und Lilis Blut floss ins Glasröhrchen.
Wieder Zuhause angekommen, war mein erster Gang zum Computer, ich wollte wissen, was Leukose bedeutet. Leukose führt früher oder später zum Tod, las ich dort. Es war, als habe jemand ein Messer in mein Herz gestoßen.
Normalerweise gurrt Lili wie ein Täubchen, wenn ich sie anspreche. Doch jetzt bekam ich als Reaktion nur jämmerliche Piepslaute, und ich hatte Angst um meine kleine Katze. Die Vorstellung, dass sie vielleicht bald sterben könnte, schnürte mir die Kehle zu.
Am nächsten Abend läge das Untersuchungsergebnis vor, hatte die Ärztin gesagt. Ich schlief sehr schlecht diese Nacht, und der nächste Tag schlich so dahin. Um sieben sollte ich anrufen, um halb sieben griff ich zum Hörer. Das Labor sei noch nicht soweit, sagte die Sprechstundenhilfe, aber am nächsten Abend bestimmt …
Ich atmete tief durch, und warf einen Blick zu Lili, die auf dem Sofa lag und hin und wieder kläglich piepste. Tränen standen mir in den Augen …
Die nächste Nacht war schlimmer als die zuvor, und der folgende Tag schien in Stillstand versunken zu sein. Achtundvierzig Stunden auf Freispruch oder das ultimative Todesurteil zu warten, das ist eine lange Zeit. Um sechs Uhr hielt ich es nicht mehr aus und griff wieder zum Hörer. Die Ärztin sei gerade in Behandlung, wurde mir gesagt, sie riefe zurück. Also erneut warten!
Nach endlosen zehn Minuten klingelte das Telefon. Mein Herz klopfte wie ver­-
rückt …
katzenbuch„Alles in Ordnung“, sagte die Ärztin, „Lili hat keine Leukose!“
Wie erleichtert und glücklich ich war, lässt sich mit Worten nicht beschreiben. Ich lief zu Lili, die nach wie vor auf dem Sofa lag, küsste ihr trockenes Näschen und wischte mir an ihrem Fell die Freudentränen ab.
Lili bekommt seitdem magenfreundliches Futter und ist längst wieder gesund. Sie jagt die Treppe rauf wie in alten Zeiten und gurrt auch wieder, wenn ich mit ihr „spreche“. Alles ist wie früher. Fast. Denn mindestens einmal am Tag flüstere ich ihr ins Ohr: „Ich hab dich lieb, du verrücktes Hühnchen …“
Renate Blaes

Die Geschichte ist aus „Das kunterbunte Katzenbuch“.

Im Mai 2014 wurde bei Lili Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert. Ein Jahr hatten wir noch miteinander, ein Jahr, das sehr schmerzlich, aber auch sehr schön war. Am 5. Juni 2015 ist meine geliebte Lili gestorben.

Ein Kommentar

  1. Oh, so lange ist es schon her … Na ja, dass wir noch einen Sommer mit der Maus verbringen könnten, das glaubten wir noch vor 3 Jahren …

    Schön, dass Du mit Rosso so einen häuslichen Begleiter gefunden hast!
    Liebe Abendgrüße schickt Silke – ausnahmsweise mal umgeben von drei grauen müden Katzenmädchen

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