Fünf Umzüge haben Fritz und ich schadlos überstanden und die allgemein herrschende Meinung, für Katzen sei die gewohnte Umgebung wichtiger als ihre Bezugsperson, ist damit eindeutig widerlegt.
Nicht die Lage der Wohnung war ihm wichtig, sondern ich. Er hatte nichts gegen andere Menschen, im Gegenteil, er war liebenswürdig zu jedermann. Fauchte und kratzte nicht, ließ sich streicheln und auch gern auf den Arm nehmen. Gelegentlich setzte er sich auch auf anderer Leute Schoß, vermittelte dabei aber den Eindruck, das sei mehr ein Akt der Höflichkeit, denn sein wahres Augenmerk galt mir.
Arbeitete ich, lag er auf dem Schreibtisch. Schaute ich fern, lag er auf dem Sofa oder meinem Schoß. Schlief ich, lag er neben mir auf dem Bett. Daran hat sich über Jahre hinweg kaum etwas verändert. Selbst dann, als ich nach der Trennung von meinem Mann (und Mucki) in ein Haus am Ammersee zog und es unmöglich war, ihn einzusperren, stromerte er nicht herum, sondern befand sich immer in Rufnähe. Lag im Garten unter dem Apfelbaum, unter einem Gebüsch oder zwischen den Salatköpfen. Vorzugsweise hielt er sich aber in meiner direkten Nähe auf, und auf meinem täglichen Rundgang über die hinterm Haus gelegenen Feldwege begleitete er mich wie ein Hündchen.
In dem Haus verbrachten wir sieben Jahre, dann nahm ich mir die Wohnung, in der ich heute noch lebe. Einige Mal am Tag ließ ich ihn raus, das heißt, ich ging mit ihm nach unten und öffnete die Tür zum Garten. Dort lief er eine Weile herum, war aber nach einer halben Stunde meistens wieder zurück. Falls nicht, brauchte ich nur rufen oder zu pfeifen, schon kam er angehoppelt. Von Jahr zu Jahr ist er mir mehr ans Herz gewachsen, und jedes Mal, wenn er mich mit seinen Schielaugen so vertrauensvoll anschaute, freute ich mich, dass der kleine Kerl sein Leben mit mir teilte.
Wir lebten zusammen wie ein alt vertrautes Ehepaar. Kannten und respektierten unsere Gewohnheiten und Tagesrhythmen und verbrachten fünfzehn Jahre in ungetrübtem Einvernehmen. Zugegebenermaßen war das weniger mein Verdienst als das von Fritzchen. Er hatte keine Marotten oder schlechte Angewohnheiten, ließ Polstermöbel und Vorhänge in Ruhe, verspeiste ohne zu murren, was ich ihm vorsetzte, war geduldig, zärtlich und verschmust. Alles in allem war er der ideale Lebensgefährte.
Ist man über so lange Zeit Tag und Nacht mit jemandem zusammen, kennt man sein Verhalten in- und auswendig und ist sensibel für kleinste Veränderungen.
Die Veränderungen in Fritzchens Verhaltens in jenem Sommer waren so minimal, dass sie selbst guten Freunden nicht aufgefallen sind. Aber ich bemerkte sie, und tief drinnen in mir nistete sich der Gedanke ein, dass die Zeit für meinen geliebten Liebling abgelaufen sein könnte.
Es waren anfangs wirklich nur Kleinigkeiten. So sprang er zum Beispiel nicht mehr so lässig aufs Sofa oder seinen Platz in meinem Arbeitszimmer, sondern stand eine Weile unschlüssig davor. So, als überlege er, ob die Anstrengung sich lohne. Er sprang dann zwar doch, aber der ganze Vorgang erschien mir irgendwie reduzierter, verhaltener – wie ein Film, der einen Tick zu langsam läuft. Dann stellte ich fest, dass die ohnehin geringe Zahl seiner Ausflüge in den Garten noch geringer wurde, die Dauer ebenfalls. Er schien lediglich sein Geschäftchen zu verrichten, denn wenige Minuten später saß er schon wieder vor der Tür und wollte rein. Er wich überhaupt nicht mehr von meiner Seite, es schien, als wolle er jede Minute mit mir auskosten.
Wie gesagt, es waren keine großen Veränderungen, aber es waren Veränderungen. Und Veränderungen, ob klein oder groß, ziehen Konsequenzen nach sich. Ich beobachtete meinen Kater mit Argusaugen.
Im September fiel mir auf, dass er sich nicht mehr wie gewohnt über seinen Fressnapf her machte, sondern davor saß und lustlos am Futter schnupperte. Ein paar Anstandshappen und die Mahlzeit war beendet. Manchmal dachte ich sogar, er mache das nur mir zuliebe – wie ein braves Kind. Ein Häppchen für die Mama, ein Häppchen für den Papa …
Zu der Appetitlosigkeit gesellte sich auffallender Durst, und dann erbrach er gelblichen Schleim. Mit Fritzchen stimmte etwas nicht. Ich vereinbarte einen Termin beim Tierarzt.
»Er hat sehr schlechte Nierenwerte«, sagte der Arzt, nachdem er Fritzchens Blut untersucht hatte.
»Aha, und was kann man dagegen tun?«, fragte ich.
»Sofort das Futter umstellen, das Zeug aus dem Supermarkt taugt nämlich nicht viel. Es belastet die Nieren. Jungen Katzen macht das nicht viel aus, für ältere kann es tödlich sein … die meisten sterben an Nierenversagen. Wie alt ist Ihr Kater?«
»Fünfzehn«, murmelte ich.
»Ein älterer Herr also«, sagte der Arzt. »Wir sollten ihn ein paar Tage an den Tropf hängen«, fuhr er fort, »aber ob das was nutzt, kann ich nicht sagen.«
Ich warf ihm einen entsetzten Blick zu. »Was soll das heißen?«
»Vielleicht schafft er’s. Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, aber Sie müssen auch damit rechnen, dass er’s nicht schafft.« Mitleidig schaute der Arzt erst Fritzchen, dann mich an. Geduldig wie immer stand mein Kater auf dem Behandlungstisch und rieb seinen Kopf an meinem Bauch. Mir schossen die Tränen in die Augen.
Teilnahmsvoll legte der Arzt seine Hand auf meinen Arm. »Wie gesagt, vielleicht schafft er’s ja, Hoffnung besteht allemal …«
Fritzchen bekam eine dicke Kanüle ins Beinchen gesteckt und wurde an einen Tropf angeschlossen. Der Tropf wurde an einen Rollständer gehängt, und mit dem begaben wir uns ins Wartezimmer.
»Es wird ungefähr eine Stunde dauern« sagte die Sprechstundenhilfe und kontrollierte die Durchlaufgeschwindigkeit der Flüssigkeit, die Fritzchens Leben retten sollte. Ich schaute meinen Kater an. Von weißem Heftpflaster umwickelt steckte die Kanüle in seinem rasierten Beinchen, ein langer Schlauch ging davon weg, nach oben zu einer Plastikflasche. Gottergeben lag er da bemitleidenswert aus. Während der ganzen Prozedur hatte er keinen Ton von sich gegeben. Vertrauensvoll wie immer ließ er alles widerstandslos über sich ergehen. Ich versuchte meine Tränen zurückzuhalten, vergeblich. Fünfzig Prozent, rief ich mir ins Gedächtnis, fünfzig Prozent Chance, hatte der Arzt gesagt. Halbleeres oder halb volles Glas? Ich entschied mich für das halb volle.
Jeden Tag fuhr ich mit Fritzchen zum Tierarzt. Dort lag er nicht mehr im verschlossenen Korb, sondern auf der Bank oder meinem Schoß. Die Arzthelferinnen schüttelten den Kopf, wenn sie an uns vorbei gingen. So etwas hatten sie wohl noch nicht erlebt. Eine Katze am Tropf, die einfach so da liegt. Kein Ausdruck des Unmuts, nicht der leiseste Versuch, davon zu rennen oder sich der Nadel zu entledigen. Nein, Fritzchen lag einfach da und ließ die Infusion in sich hinein tröpfeln. Jeden Tag ungefähr eine Stunde.
Damit nicht immer wieder eine neue Nadel in sein Beinchen gebohrt werden musste, blieb die alte in der Vene, von Heftpflaster geschützt. Zuhause versuchte er immer wieder, den Verband wegzulecken oder weg zu schütteln. Vergeblich natürlich. Der kleine Kerl tat mir in der Seele leid, und ich hatte Angst um ihn. Nachts lag er nicht auf dem dicken Kissen, sondern kuschelte sich eng an mich, und ich steckte meine Nase sein Fell, so wie früher, als er ganz klein war.
Nach zwei Wochen war die Behandlung beendet, die lästige Kanüle wurde entfernt, die Nierenwerte aber hatten sich nicht wesentlich verändert.
»Sie können die Behandlung zu Hause weiter führen« sagte der Arzt. »Allerdings müssen Sie ihm jeden Tag eine Spritze zu geben. Ist nicht schwierig …«
Er zeigte es mir, ich machte es nach, und es war tatsächlich nicht schwierig. Ich war sogar überrascht, wie einfach es ging. Die Haut an einer Stelle hinter dem Vorderlauf zwischen Daumen und Mittelfinger nehmen, ein bisschen nach oben ziehen, dann den Zeigefinger dagegen halten und unterhalb der Fingerkuppe die Nadel hinein stechen. Fritzchen schien gar nichts zu spüren dabei, er zuckte nicht einmal.
Ãœber mehrere Wochen hinweg gab ich ihm jeden Tag eine Spritze. Anfangs schien er mehr Appetit zu zeigen, aber das war wohl nur Einbildung oder Hoffnung, denn er wurde zusehends dünner und schwächer. Als ich vom Arzt wissen wollte, woran ich erkennen könne, ob oder wann Fritzchen leidet, meinte er, das brauche er mir im Detail nicht zu schildern, ich würde es merken. Bevor ich los heulte, konnte ich gerade noch fragen, ob er denn einen Hausbesuch machen würde – wenn es so weit sei. Ja, würde er machen, sagte er.
Eine neue Futtersorte aus dem Tierladen fraß Fritzchen nur wenige Tage, dann verlor er das Interesse daran. Damit er nicht verhungerte, fütterte ich ihn mit gekochtem Huhn und Fisch. Das schmeckte ihm anfangs, doch dann ließ der Appetit auch dafür nach. Ãœber jedes winzige Häppchen, das er mit großer Ãœberredungskunst meinerseits zu sich nahm, war ich glücklich. Trotzdem wurde er dünner und dünner, und manchmal war er so schwach, dass beim Gehen die Beinchen unter ihm weg sackten. Ich holte das Katzenklo aus dem Keller, für den Gang in den Garten hatte der kleine kranke Kerl keine Kraft mehr.
Dann kamen die traurigsten Weihnachten meines Lebens, die letzten mit Fritzchen. Er schlief nicht mehr in meinem Bett auf der Galerie, das Treppensteigen war zu anstrengend. Er schaffte es gerade noch, auf das Sofa zu gelangen, wo er den ganzen Tag verbrachte, mit dem Gesicht zur Wand. Hin und wieder torkelte er zu seinem Klo oder in die Küche, um Wasser zu schlabbern. Das waren seine einzigen Aktivitäten. Auch schmusen wollte er nicht mehr. Der endgültige Abschied stand bevor, das wussten wir beide. Das vor zwei Monaten noch halb volle Glas war leer.
Einen Tag vor Silvester weckte mich am frühen Morgen ein Geräusch, das ich in den letzten Wochen nur allzu oft gehört hatte: Fritzchen würgte erst und übergab sich dann. Dieses Mal aber wurde der bemitleidenswerte Vorgang von einem Mark erschütternden Schrei begleitet. Nie zuvor hatte ich einen derart gequälten Laut vernommen. Wie ein Messer drang er in mein Herz.
»Sie merken, wenn er leidet«, hatte der Tierarzt gesagt.
Mit schwerer Hand griff ich zum Telefon …
Die Geschichte stammt aus meinem Katzenbuch: Auf leisen Sohlen