Der Abend, an dem das Verhängnis seinen Lauf nahm, fing harmlos an. Ich saß mit Richard beim Chinesen um die Ecke und ließ mir meine Leibspeise schmecken: Pekingente. Die kleinen Fleischstücke waren genauso wie sie sein mussten: außen knusprig, innen weich und zart. Auch der Sake war lecker, alles in allem war ich bester Laune.
Plötzlich sagte Richard: »Katzen in der Wohnung zu halten ist Freiheitsberaubung.«
Ich ließ das Entenstückchen, das ich mit zwei Stäbchen in Richtung Mund balancierte, fallen und schaute Richard entgeistert an.
»Wie meinst du das?«, fragte ich.
»So, wie ich es sage«, antwortete er.
»Sie können doch aufs Dach«, entgegnete ich.
»Auf dem Dach gibt’s aber keine Mäuse.«
»Das ist mir nur recht«, murmelte ich.
»Den Katzen aber nicht«, sagte Richard, »es liegt in ihrer Natur Mäuse zu fangen, ob es dir recht ist oder nicht.«
»Draußen ist es aber gefährlich. Autos … Tierfänger …
»Das ganze Leben ist gefährlich« grinste Richard, »und angeblich sollen auch schon Menschen unters Auto gekommen sein.«
»Ach«, ich warf ihm einen verärgerten Blick zu, »das kann man doch gar nicht vergleichen!«
»Doch, das kann man sehr gut vergleichen«, meinte er in seiner besserwisserischen Art.
»Katzen sind es gewohnt, in einer Wohnung zu leben«, sagte ich.
»Nein, Katzen sind es gewohnt, draußen herum zu laufen«, entgegnete Richard. »Sie in die Wohnung zu sperren ist Tierquälerei.«
»So ein Quatsch! Ich quäle meine Katzen nicht, sondern sorge dafür, dass es ihnen gut geht.«
»Katzen geht es gut, wenn sie frei sind, und nicht, wenn sie in einem Käfig leben«, sagte Richard.
»Es besteht doch wohl ein kleiner Unterschied zwischen einem Käfig und einer geräumigen Wohnung«, sagte ich.
»Wie würde es dir wohl gefallen, dein Leben lang in einer Wohnung eingesperrt zu sein?«, sagte Richard. »Egal, wie groß sie ist …«
»Und, was sollen wir machen – deiner Meinung nach? Die Katzen raus lassen?«
»Genau!«
»Kommt ja nicht in Frage!« Ich griff zum Sakeschälchen.
»Und warum nicht?«
»Weil ich nicht will, dass ihnen was passiert!« Ich leerte das Schälchen in einem Zug.
»Sie sollen also in der Wohnung verkümmern?«
Allmählich wurde ich wütend. »Sie verkümmern nicht«, gab ich zurück, »im Gegenteil … sie fühlen sich sehr wohl! Das merkt man ihnen deutlich an.«
»Draußen würden sie sich besser fühlen.«
Die immer hitziger werdende Diskussion hier im Detail nachzuzeichnen, ist nicht notwendig. Relevant ist das Ergebnis, und ich weiß nicht, ob es an Richards Rhetorik lag oder am Sake, und letztendlich ist das auch egal, denn irgendwann sagte ich entnervt: »Also gut, wenn du darauf bestehst, lassen wir sie eben raus.« Ich atmete tief durch und warf ihm einen bösen Blick zu. »Und wenn ihnen was passiert, bist du schuld.«
»Klar«, sagte Richard und grinste zufrieden, »ich übernehme die volle Verantwortung!« Er hob die Hand zum Schwur, und ich bestellte noch einen Sake.
Eine Stunde später schaute ich wortlos zu, wie Richard erst die Wohnungstür und dann die Haustür öffnete. Es dauerte nur wenige Sekunden, und die Katzen waren dort, wo Richard sie haben wollte: draußen. Schnuffi schien auf die Freilassung förmlich gewartet zu haben. Schnurstracks tippelte sie um die Hausecke und verschwand in Richtung Garten. Mucki schnupperte erst an einem Strauch vor der Haustür und verschwand dann um die andere Ecke. Putzel dagegen stand unschlüssig auf dem Gehsteig, schnupperte an der Hinterlassenschaft eines Hundes, tippelte ein paar Schritte hin und her, kam wieder zurück, rieb sich an meinem Bein und schien auf Anweisungen zu warten.
Richard und ich gingen ums Haus herum, Putzel folgte uns. Im Garten angelangt, wusste er immer noch nicht so recht, was er tun sollte, nahm dann aber einen kleinen Anlauf und sprang kurz entschlossen über den Zaun in den Nachbargarten. Weg war er. Ich warf Richard einen vorwurfsvollen Blick zu und ging wortlos nach oben.
»Du wirst schon sehen – morgen früh sind alle drei wieder da«, sagte Richard beim Zähneputzen und tätschelte mir den Po.
»Lass das«, fauchte ich und ging schlafen. Als er mir einen Gutenachtkuss geben wollte, drehte ich den Kopf weg.
Am nächsten Morgen, nach einer sehr schlechten Nacht, eilte ich nach unten. Keine Katze weit und breit. Genau was ich befürchtet hatte. Wieso hatte ich nur zugestimmt, die Katzen raus zu lassen? Ich hätte mich ohrfeigen können. Ohne große Hoffnung ging ich nach hinten in den Garten und pfiff, aber außer ein paar Blättern im Wind bewegte sich nichts. Ich rief leise ihre Namen, keine Reaktion. Resigniert wollte ich schon umdrehen, als ich plötzlich ein Rascheln hörte und Putzel unter einem Gebüsch hervor kam, Mucki im Schlepptau. Fidel sprangen die beiden auf mich zu. Von Schnuffi allerdings keine Spur.
»Siehst du«, sagte Richard zufrieden und beschmierte sein Frühstücksbrötchen dick mit Marmelade.
»Und wo ist Schnuffi?«
»Die kommt schon noch«, meinte er und biss genüsslich ein Stück vom Brötchen ab.
Schnuffi tauchte tatsächlich auf. Ein paar Stunden später stand sie vor der Tür und schien sehr hungrig zu sein, denn sie fraß doppelt so viel wie normal.
Nach wenigen Wochen hatten sich alle an den neuen Ablauf gewöhnt. Tagsüber hielten die Katzen sich schlafend in der Wohnung auf, nachts strawanzten sie, morgens standen sie vor der Haustür oder waren zumindest in der Nähe. Wenn sie mich pfeifen hörten, kamen sie angerannt. Wobei das nicht ganz richtig ist. Schnuffi, mit der Mucki sich immer noch nicht vertrug, nutzte die neue Freiheit, um sich ein alternatives Zuhause zu suchen.
Das fand sie ganz in der Nähe, bei einem älteren Ehepaar auf der anderen Straßenseite. Die beiden sprachen mich eines Tages an und meinten, unsere Katze läge nachts immer bei ihnen auf dem Sofa, und sie brächten es nicht übers Herz, sie raus zu jagen. Wir redeten eine Weile miteinander, und dann machten sie mir das Angebot, Schnuffi bei sich aufzunehmen. Weil das für alle Beteiligten die beste Lösung war, erklärten Richard und ich uns damit einverstanden. Begegnete ich ihr hin und wieder auf der Straße, blieb sie manchmal stehen und ließ sie sich streicheln, meistens aber tippelte sie an mir vorbei, als sei ich eine Fremde.
Eines Morgens saß Mucki wie gewohnt in Nähe der Haustür, Putzel aber nicht. Ich ging in den Garten und pfiff. Nichts! Ich ging ums Haus herum. Wieder nichts. Ich ging um den Block. Immer noch nichts. Wo steckte er nur?
»Der kommt schon wieder«, meinte Richard.
»Das ist aber nicht normal«, sagte ich, »sonst war er jeden Morgen da.«
»Nun ist er halt mal nicht da«, meinte Richard, »kein Grund hysterisch zu werden.«
»Da stimmt was nicht«, sagte ich und hatte kein gutes Gefühl.
Jede halbe Stunde ging ich nach unten und drehte meine Runden. Vergeblich. Am späten Vormittag machte ich mich auf den Weg ins Untergeschoss. Vielleicht hatte er es irgendwie geschafft, in den Keller zu gelangen. Ich schloss die Tür auf, schaute durch die Holzlatten in jede staubige Ecke. Nichts. Ich warf meinen Blick in die Waschküche und den Trockenraum. Nichts. Doch plötzlich, auf dem Weg zur Tiefgarage, glaubte ich ein leises Miauen zu vernehmen. Wie angewurzelt blieb ich stehen, lauschte, hörte aber nichts mehr. Na ja, Wunschdenken … Doch dann war es plötzlich wieder da, das Miauen. Leise und verhalten drang es durch die Stahltür eines unbenutzten Kellerraumes. Ich drückte die Klinke runter, die Tür war verschlossen. Ich legte mein Ohr an den Stahl, pfiff und bekam umgehend Antwort. Mir lief das Herz über vor Freude.
Ich hastete nach oben und rief den Hausmeister an. Der sei unterwegs, meinte seine Frau. Wann er zurückkäme, fragte ich. Das wisse sie nicht, sagte die Frau. Mist! Aber besser ein eingeschlossener Kater als ein verschwundener.
Fünf ewig sich dahin ziehende Stunden später kam der Hausmeister endlich und schloss die Tür auf. Den Anblick des kleinen Katers werde ich nie vergessen. Völlig verstört hockte er neben einer Drahtzaunrolle und schien die Welt nicht mehr zu verstehen. Ich lief auf ihn zu und hob ihn hoch. Schnurrend schmiegte er sein Köpfchen an meine Wange, überglücklich trug ich ihn nach oben.
Wie er in diesen Kellerraum gelangen konnte? Das war ganz einfach nachzuvollziehen. Bei einem seiner Erkundungsgänge hatte er im Lichtschacht das schräg stehende Souterrainfenster entdeckt, sich durch gezwängt und war nach unten gesprungen. Ein Zurück gab es nicht mehr, das Fenster lag zu hoch. Um eine Wiederholung zu verhindern, habe ich es geschlossen.
In den nächsten Wochen war alles in Ordnung. Doch dann saß Mucki wieder allein vor der Tür. Ich eilte nach hinten in den Garten, wahrscheinlich hatte der doofe Hausmeister das Fenster wieder geöffnet. Das Fenster war zu.
Wieder suchte ich nach meinem Kater, den ganzen Tag lang, in regelmäßigen Abständen. Lief um den Block, fuhr mit dem Fahrrad rufend und pfeifend durchs Viertel. Von Putzel keine Spur.
»Der kommt schon«, meinte Richard, »treibt sich wahrscheinlich mit Weibern rum.« Er grinste einfältig.
»Blödmann«, sagte ich und hätte ihm eine scheuern können.
Am Abend war Putzel immer noch nicht da. Auch am nächsten Morgen nicht, auch nicht am nächsten Abend. So ging es Tag für Tag. Ich rief die Polizei an und fragte nach einer überfahrenen Katze. Hätte ich erfahren, dass er tot ist, wäre ich sehr traurig gewesen, aber ich hätte es wenigstens gewusst. So aber wusste ich gar nichts und stellte mir meinen Kater vor, eingeschlossen, ohne Futter, ohne Wasser. Immer wieder hatte ich das Bild vor Augen, als er so hilflos im Keller neben der Drahtrolle hockte. Mir liefen die Tränen runter. Ich sah ihn vor mir, mit Elektroden am Kopf im Käfig einer Versuchsanstalt und fand Telefonnummern von Tierfängern heraus. Diese unwürdigen Kreaturen waren erstaunlich umgänglich, aber einen rotgetigerten Kater hatten sie nicht. Sagten sie zumindest. Auch meine Anrufe bei den Versuchslaboren brachten kein Ergebnis. Mir war schlecht vor Sorge.
Schließlich gab ich Suchanzeigen in verschiedenen Zeitungen auf. Nichts! Ich heftete Suchzettel mit Foto von Putzel an Bäume und an die Pinnwände umliegender Läden. Nichts!
Ich fragte jeden Menschen, der mir auf den Straßen im Stadtviertel begegnete, nach einem rot getigerten Kater. Nichts!
Auch die Kinder-Detektive Pasing, die ihre Hilfe anboten, Haus für Haus abklapperten und nach einer zugelaufenen oder in einem Keller oder Schuppen eingeschlossenen Katze fragten, konnten keinen Erfolg vermelden.
Putzel tauchte nie wieder auf.
Die Geschichte ist aus: Das kunterbunte Katzenbuch
Das war ja ein absoluter Albtraum. So ähnlich ging es mir vor ein paar Wochen, als Minnie tagelang verschwunden blieb. Zum Glück war er „nur“ in der Nachbarschaft eingesperrt, aber trotzdem – es ist furchtbar, wenn man so gar keine Ahnung hat, was passiert sein könnte. Da ist es wirklich besser, dass gerade wenigstens einer von Deinen Katern nicht rausgeht …
Liebe Grüße,
Doris