Katzen, die draußen herumlaufen, kosten erheblich mehr als Wohnungskatzen. Nicht in der Anschaffung oder weil sie aufgrund ihrer Ausflüge an der frischen Luft möglicherweise mehr futterten als behäbige Wohnungskatzen. Nein, der Unterschied liegt in den Tierarztkosten. Eine freilaufende Katze rauft mit Artgenossen, purzelt von morschen Ästen, bleibt an spitzen Drähten hängen, zwängt sich durch Zäune und Büsche und zieht sich Schiefer und Dornen ein. Für Stubentiger vollkommen fremde Situationen, für meine Katzen selbstverständlich. Die Folgen sind meist kleinere Verletzungen, die von allein heilen, manchmal aber auch größere, die vom Fachmann versorgt werden müssen.
So kommt Felix in unregelmäßigen Abständen mit unschönen Blessuren nach Hause, verursacht durch Auseinandersetzungen mit seinem erklärten Intimfeind, einem aus falsch verstandener Tierliebe nicht kastrierten Kater aus der Nachbarschaft. Der ist aggressiv und heimtückisch und liebt Überfälle aus dem Hinterhalt (mich hat er auch schon gebissen – was eine Blutvergiftung zur Folge hatte). Sobald dieses Viech Felix’ Gesichtsfeld betritt, wird aus meinem normalerweise friedfertigen Kater ein entschlossener Kämpfer, der sich seinem Gegner tapfer entgegenstellt und sein Revier verteidigt. Blutende Kratzer, Risse und Bisswunden sind deshalb an der Tagesordnung und bringen weder Felix noch mich aus der Ruhe.
Vor drei Jahren fiel mir auf, dass seine linke Backe geschwollen war. Felix sah aus, als habe er einseitigen Mumps. Das musste ich mir genauer anschauen. In einer kleinen Blutkruste neben der Nase fand ich den Rest einer Kralle. Als ich sie heraus pulte, knurrte Felix und schlug mit der Pfote nach mir. Ganz offensichtlich hatte er Schmerzen. Also bugsierte ich ihn in den Korb und fuhr mit ihm zur Tierärztin. Dort setzte ich mich auf die Bank im Wartezimmer, neben eine junge Frau mit Katzenkorb. Natürlich kam ich sofort mit der Frau ins Gespräch. Das ist so üblich. Im Gegensatz zu Wartezimmern in Humanpraxen, in denen die Menschen muffig vor sich hin schweigen, findet in Veterinärpraxen ein reger Austausch statt. Innerhalb weniger Minuten weiß jeder, was dem Liebling des anderen fehlt, ob es sich um eine ernsthafte Erkrankung handelt oder lediglich ein Impftermin ansteht.
Im Korb der jungen Frau befand sich ein winziges Kätzchen. Höchstens ein paar Wochen alt.
»Darf ich sie mal rausnehmen?«, fragte ich.
»Klar«, meinte die Frau, und ein paar Sekunden später krabbelte das Kätzchen munter auf meinem Schoß herum. Sein weißes Fell war durchsetzt von rostfarbenen Flecken, die wie hingekleckst aussahen. Ein Klecks befand sich über der Nase und zog sich hoch bis zu den Ohren, der nächste lag schräg zur Seite verrutscht am Rücken, ein weiterer kurz vor dem Schwänzchen. Das Schwänzchen selbst hatte rot-weiße Ringel und erinnerte an ein Streifenhörnchen. Die winzige Nase war rosa wie ein Marzipanschweinchen, und die gelb leuchtenden Augen waren durchsetzt von goldenen Sprenkeln. Alles in allem war das kleine Wesen bildhübsch.
»Na, Frau Blaes, wäre das nichts für Sie?«, fragte die Tierärztin, als sie ins Wartezimmer kam.
»Ich hab doch schon Felix«, sagte ich. Der saß in seinem Korb und schaute mit großen Augen auf das Kätzchen.
»Sie können es gern haben«, sagte die junge Frau. »Ich hab’s gestern beim Gassigehen pitschnass im Straßengraben gefunden. Eigentlich hab nicht ich es gefunden, sondern Bruno …«
»Mein Gott«, sagte die Tierärztin und strich mit ihrem Zeigefinger dem Kätzchen zärtlich über den Kopf, »hast du ein Glück! Du wärst das gefundene Fressen für einen Fuchs gewesen …«
Ich stellte mir das Kätzchen als Leckerbissen für einen hungrigen Reineke vor und schauderte.
»Sie können es wirklich gern haben« wiederholte die junge Frau. »Wir haben schon zwei Katzen, einen Hasen … und einen Hund. Mein Mann ist gar nicht begeistert. Wir behalten das Kätzchen natürlich … aber wenn Sie es haben wollen … wie gesagt … wir geben es gern ab.«
Im ersten Moment erschien mir der Gedanke an eine zweite Katze abwegig, und ich warf einen Blick auf Felix, der immer noch das Kätzchen fixierte. Immerhin fauchte oder knurrte er nicht, das war schon mal ein gutes Zeichen. Ich nahm das Kätzchen hoch und hielt es ihm vor die Nase. Er gab immer noch keinen Ton von sich, zog sich aber in den hinteren Teil des Korbes zurück.
Die Frau sah mich erwartungsvoll an, und die Tierärztin grinste verschmitzt, so, als wisse sie, was gleich passieren würde. Und ich habe wirklich keine Ahnung, was mich dazu veranlasste, aber plötzlich sagte ich:
»Okay, ich nehm es.«
»Oh, wirklich?« Freudig überrascht schaute die junge Frau mich an. »Das ist ja prima!« Sie war sichtlich erleichtert. »Ich bezahl natürlich die Untersuchungskosten«, fügte sie hinzu.
»Kommt gar nicht in Frage! Wenn ich das Kätzchen adoptiere, bin ich auch für die Arztkosten zuständig«, sagte ich.
Nachdem die Tierärztin Felix’ Verletzung desinfiziert und versorgt hatte, impfte und untersuchte sie das Kätzchen – und befand alles für in Ordnung. Zum Schluss wollte sie Fieber messen, was das Kätzchen überhaupt nicht lustig fand. Es fauchte, fuhr die winzigen Krallen aus und zog sie der Tierärztin über den Handrücken.
»So klein und schon so frech«, grinste die und tupfte sich das Blut ab. »Der arme Felix, der wird nicht viel zu lachen haben …«
Mit zwei Katzen auf dem Rücksitz machte ich mich auf den Nachhauseweg, der ohne besondere Vorkommnisse verlief. In dem von der jungen Frau geliehenen Korb schlief das zusammengerollte Kätzchen, im eigenen Korb saß in aufrechter Haltung Felix, der zu ahnen schien, dass sein uneingeschränktes Herrschertum vorbei war, denn irgendwie wirkte er resigniert. Zuhause angekommen, beobachtete er noch, wie das Kätzchen aus dem Korb und im Wohnzimmer herumkrabbelte und machte sich dann aus dem Staub. Na gut, dachte ich, dann kann ich mich in aller Ruhe Lieschen widmen. Lieschen, so hatte ich die kleine Katze getauft. Als Reminiszenz an meine Mutter, deren Name Liesbeth war, und die ich sehr geliebt hatte.
Nachdem Felix verschwunden war, tippelte Lieschen auf die Terrasse. Dort schnupperte sie in den Ecken herum, jagte abgestorbenen Blättern hinterher und sprang dann auf den großen Blumentopf mit der Birke. Sie schlug ihre Krallen in die Rinde und hangelte sich stückweise nach oben – ähnlich wie Arbeiter von Stromfirmen, die mit an ihre Füße geschnallten Eisenkrallen den Mast hochklettern. Doch während diese Männer sich nur mit großer Mühe nach oben wuchten, machte Lieschen das ganz leichtfüßig. Wenige Sekunden nur, und sie saß in der Baumkrone. Von dort war es nur noch ein kleiner Sprung zum Dach – das kannte ich ja bereits. Und weil die Terrassensituation ähnlich war wie die in München, war guter Rat nun teuer.
Ich klaubte die kleine Katze vom Baum, sperrte sie ins Wohnzimmer und überlegte mir, wie ich ihre Klettertouren unterbinden könnte. Nicht lange, und mir kam die Idee: ich machte einen vertikalen Schnitt in einen Blumentopf aus Kunststoff, spreizte ihn auseinander, klemmte ihn kopfüber um den Stamm und öffnete dann gespannt die Terrassentür. Zielstrebig tippelte Lieschen auf die Birke zu, hangelte sich wieder den Stamm hoch – und nahm verwundert das Hindernis zur Kenntnis, das ihr jetzt den Weg versperrte.
Man soll sich ja nicht selber loben, aber dieser Einfall mit dem Blumentopf war genial! Lieschen gelangte erst aufs Dach, als sie groß genug dafür war.
Die Geschichte stammt aus meinem Buch „Auf leisen Sohlen“