Bis vor Kurzem drei Katzen, jetzt nur noch eine. Die Wohnung wirkte leer und verwaist. Die Hoffnung, dass Putzel doch noch auftauchte, wurde von Tag zu Tag geringer, und nach drei Monaten fand ich mich damit ab, dass ich ihn nicht mehr wieder sehen würde. Mit der Zeit rollten auch keine Tränen mehr über meine Wangen, wenn ich an ihn dachte oder sich jemand nach ihm erkundigte.
Das Thema, Mucki raus zu lassen oder nicht, war mit Putzels Verschwinden vom Tisch. Ihr Lebensbereich waren Wohnung und Dach, das hatte ich entschieden und lehnte jede weitere Diskussion ab. Solche unerträglich sich dahin ziehenden Wochen der Ungewissheit und Hilflosigkeit wollte ich nicht mehr erleben.
Mucki schien meine Entscheidung nicht viel auszumachen. Nachdem sie ein paar Mal vergeblich miauend vor der Wohnungstür gestanden hatte, schien sie zu begreifen, dass die Zeit der großen Freiheit nur eine Episode gewesen war. Unglücklich wirkte sie dabei nicht. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass nicht nur ich meinen Liebling vermisste, sondern auch Mucki ihren Spielgefährten.
„Was hältst du davon, wenn wir ins Tierheim fahren?“, sagte ich Anfang September. Alain nickte, und wir machten uns auf den Weg. Ein ganz junges Kätzchen sollte es sein, das wäre besser zu integrieren. Diese Erfahrung hatten wir ja schon hinter uns.
Die Abteilung für Katzenbabys hatte ich mir gemütlich und kuschelig vorgestellt. Gedimmtes Licht, weich gepolsterte Körbchen, niedliches Spielzeug. Die Realität war anders. Grelle Neonlampen, kalter Estrich. Auf dem Estrich ein paar handvoll Stroh und zwei große flache Kisten. Futter in der einen, Streu in der anderen. In diesem tristen Umfeld wuselten dreißig bis vierzig Katzen herum, wenige Wochen alt.
Welche sollten wir nehmen? Nach welchen Kriterien auswählen? Sie sahen alle gleich aus, unterschieden sich lediglich in Farbe und Musterung. Doch plötzlich fiel mir ein Kätzchen ins Auge. Es hatte ganz dünne Beinchen und ein dickes Bäuchlein. Ungelenk tappte es zwischen seinen Artgenossen umher und wirkte irgendwie hilfsbedürftig. Ich deutete auf das Kätzchen, Alain nickte.
„Das ist ein kleiner Kater“, sagte die Pflegerin, nachdem sie einen kurzen Blick unter den Schwanz unserer Wahl geworfen hatte. Sie schien ein Profi in der Bestimmung von Geschlechtsmerkmalen zu sein, denn weder Alain noch ich konnten nachvollziehen, weshalb sie sich so sicher war. – Aber sie hatte Recht, wie sich herausstellte.
„Nein!“ sagte ich entrüstet, als die Frau an der Rezeption unser Katerchen im obligatorischen Transportbehälter verstauen wollte, „wir stecken den kleinen Kerl doch nicht in einen Karton!“ Er war so winzig, dass er in meine Hände passte. Zitternd kuschelte er sich zwischen die Finger. Sein Herzchen klopfte. Ich steckte meine Nase in sein flauschiges Fell und raunte ihm beruhigende Worte ins Öhrchen. Er zitterte unentwegt weiter.
Umgeben von Baustellenlärm und Sommerhitze fuhren wir durch die Stadt. Der kleine Kater hatte Angst und miaute unaufhörlich. Die piepsige Stimme überschlug sich, er hechelte und schwitzte. Ich steckte meine Nase wieder in sein Fell und redete ihm gut zu. Es nutzte nichts. Verzweifelt schrie er weiter, bis wir zu Hause ankamen und er ganz heiser war. Doch dann war Ruhe. Erschöpft ließ er sich auf dem Fußboden nieder. Mucki näherte sich, setzte sich einen Meter neben ihn und schaute ihn neugierig an. Neugierig schaute er zurück. Kein Fauchen, kein Knurren, keine ausgefahrenen Krallen. Sie mochten sich auf Anhieb.
Wir nannten ihn Fritz. Irgendwie passte dieser Name zu ihm. Ich weiß auch nicht, warum. Er passte einfach …
Fritzchen schielte. Mit beiden Augen. Sie schauten nach innen, in Richtung Nase. Immer, wenn er mich so inniglich anschielte, zog ein warmes Gefühl durch mein Herz. Es war Liebe auf den ersten Blick, aber das wurde mir erst später klar.
Fritzchen ging auf Entdeckungsreise und tapste auf dünnen Beinchen durch die Zimmer. Ich hatte Angst, er könne zusammenbrechen, er war so winzig und wirkte so zerbrechlich. Er stellte sich vors Bett und wollte hoch springen. Das funktionierte aber nicht, immer wieder purzelte er runter. Doch er gab nicht auf. Unermüdlich schlug er seine kleinen Krallen in die runterhängende Bettdecke und zog sich schrittweise hoch. Irgendwann gelang es ihm doch. Schwupps, schwupps, schwupps, geschafft! Glücklich oben angekommen, tippelte er über die Decke, und ließ sich auf ein Kissen plumpsen. Endlich war er zu Hause, das wusste er, und das spürte ich. Erleichtert schielte er mich an. Wenige Sekunden später war er eingeschlafen. Am Fußende des Bettes saß Mucki und bewachte ihn.
„Der wird mal ziemlich groß. Das sieht man an seiner Kopfform“, sagte die Tierärztin, als sie ihn ein paar Monate später seiner Eierchen beraubte. Erst hatte ich ein schlechtes Gewissen, dann aber dachte ich mir, wozu braucht ein Dachkater Eierchen …
Das Dach war sein Revier. Dort machte er Spaziergänge, besuchte die Nachbarn, balancierte wie ein Seiltänzer den First entlang, schaute den Vögeln hinterher, setzte sich auf den Kamin und dachte über den Sinn des Lebens nach. Zumindest machte er oft diesen Eindruck.
Rhrhrhrhrhrhrhrhrhrh, rhrhrhrhrhrhrhrhrh. Fritzchen war Weltmeister im Schnurren. Er konnte vorwärts und rückwärts schnurren, und ist im Laufe seines Lebens bestimmt mehrmals um die Welt geschnurrt. „Du musst ihn ölen“, grinsten meine Freunde, denen so eine Katze noch nie begegnet war. Mir auch nicht. Fritzchen war ein ganz besonderes Wesen. Auf gewisse Art und Weise war er mir so vertraut, dass ich manchmal glaubte, ihn aus einem früheren Leben zu kennen. Wer weiß …
Er verbrachte die ganze Nacht auf dem dicken Kissen neben meinem Kopf. Kaum lag ich im Bett, kam er angetippelt, stand mit zitterndem Schwanz kurz davor, schielte mich an und sprang dann nach oben. Hopste über mich drüber, hopste auf das dicke Kissen und machte dort eine kleine Milchtrittrunde. Dann tappte er wieder runter vom Kissen. Steckte seine Nase unter meine Bettdecke, kroch bis zum Knie, kroch wieder zurück, kuschelte sich an meinen Bauch und leckte mit seiner Schleifpapier-Zunge meinen Arm ab. Dann stand er wieder auf und tapste zu dem dicken Kissen. Dieses Ritual wurde streng eingehalten. Täglich. Auf dem Kissen blieb er schließlich liegen, eingeringelt wie ein Rollmops. Direkt neben meinem Gesicht schnurrte er sich und mich in den Schlaf.
So gegen sechs war die Nacht für ihn erstmal zu Ende. Nun musste er nachsehen, ob noch alles da und in Ordnung war. Auf der Terrasse und auf dem Dach. Nach der morgendlichen Inspektion kam er wieder ins Bett. Aber diesmal legte er sich nicht auf das dicke Kissen, sondern ans Fußende. Jeden Morgen. Konsequent. Dösend aber aufmerksam wurde dort gewartet, bis ich endlich aufstand. Und das konnte dauern! Manchmal bis in den späten Vormittag. Vor allem an den Wochenenden. Aber Fritzchen hatte die Ruhe weg. Und er hatte Vertrauen. Grenzenloses Vertrauen.
Und irgendwann war es dann soweit. Fritzchen hob den Kopf.
Der Vorhang war das Signal. Wenn ich ihn aufzog, gab’s kurze Zeit später was zu futtern. Zuversichtlich tippelte er vor mir her, in Richtung Küche. „Oh, nix mehr da, Fritzchen“, sagte ich, und er verstand sofort. Machte umgehend kehrt und tippelte in Richtung Vorratskammer, schaute dabei aber zurück, ob ich ihm auch folgte.
„Hühnchen gibt’s heute.“ Ich las ihm immer die Sorte vor und winkte dann mit der Dose.
Fröhlich hoppelte er eines Tages wieder in Richtung Küche. Sein Hängebäuchlein schwang von einer Seite zur anderen, und genau dabei ist es mir aufgefallen. Viele Jahre sind seitdem vergangen.
Während sein Bäuchlein hin und her pendelte und dieses warme Gefühl durch meinen Körper zog, wurde mir plötzlich bewusst: „Ich liebe ihn.“